Bedürfnisse: Wie du sie besser finden kannst

Wenn Bedürfnisse so wichtig sind, weshalb sind sie manchmal so schwer zu finden?

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb wir unsere Bedürfnisse manchmal nicht herausfinden:

  1. Wir kennen sie nicht, respektive haben noch keinen Begriff dafür.
  2. Wir verwechseln sie mit Strategien.
  3. Emotions-Schutzmechanismen behüten uns davor, an die Bedürfnisse zu kommen.

Zuerst gehe ich vertiefter auf die verschiedenen Gründe ein. Danach beschreibe ich, was du tun kannst, um deine Bedürfnisse besser und schneller zu finden.

Falls du wissen möchtest, weshalb Bedürfnisse insbesondere für die Lösung von Konflikten wichtig sind, kannst du diesen Artikel von mir dazu lesen.

Unbekannte Bedürfnisse erkennen

Die meisten Menschen, die das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation kennenlernen, haben noch nie davon gehört, dass es eine Definition von Bedürfnissen gibt, die alle Menschen haben. Sie kennen zwar die Wörter (Wohlbefinden, Vertrauen, Nahrung, Bewegung), haben diese aber nicht mit diesem Konzept von Bedürfnis in Verbindung gebracht. Somit braucht es zuerst ein Verständnis der Definition und anschliessend braucht es Übung in der Erkennung der entsprechenden Bedürfnisse im Alltag. Dies ist in etwa so, wie wenn wir beim Lernen einer Fremdsprache lernen müssen, dass bestimmte Wörter in der anderen Sprache nicht dieselbe Bedeutung haben.

Bedürfnisse und Strategien unterscheiden

Bedürfnisse sind das, was alle Menschen brauchen, um überleben und physisch und psychisch gesund bleiben zu können, so zum Beispiel Erholung, Bewegung, Sicherheit, Nahrung, Gemeinschaft, Gesundheit. Sie sind unabhängig von a) bestimmten Personen und b) Orten und sie sind mindestens c) teilweise unabhängig von einer bestimmten Zeit.

Strategien hingegen sind geistige und physischen Handlungen oder Tätigkeiten und sie können an Personen, Orte und Zeiten geknüpft sein.

Wenn du deine Strategie, dass dein Kind sein Zimmer aufräumt, für ein Bedürfnis hältst, wirst du immer wieder frustriert und irritiert darüber sein, wenn dein Kind dieses «Bedürfnis» offenbar nicht hat. Mögliche Bedürfnisse hinter der Strategie nach Ordnung im Kinderzimmer könnten sein: Wohlbefinden, Leichtigkeit (wenn ich ans Staubsaugen des Zimmers denke), Schönheit, Sicherheit.

Emotions-Schutzmechanismen

Ich habe vor kurzem in einer Weiterbildung erlebt, wie eine Mutter eine Bitte an ihre Tochter in den vier Schritten der Gewaltfreien Kommunikation formuliert hat. Sie hat gesagt: «Wenn ich daran denke, dass du dich nicht an unsere Abmachung bezüglich dem Gamen hältst, bin ich wütend, weil mir Verlässlichkeit wichtig ist. Wie ist das für dich, wenn du das hörst?»

Ich habe gegenüber der Mutter die Vermutung geäussert, dass sie noch nicht beim eigentlichen Bedürfnis angekommen ist. Dies deshalb, weil Wut ein Sekundärgefühl ist. Sekundärgefühle sind solche, die mit moralischen Urteilen verknüpft sind (z.B. «Meine Tochter müsste sich doch jetzt endlich an diese Abmachung halten können.») und sie deuten darauf hin, dass wir noch nicht verbunden sind mit dem wirklichen Bedürfnis, um das es uns in dieser Angelegenheit geht. Ich habe die Mutter gefragt, ob sie mit mir zusammen nach den möglichen, dahinter liegenden Bedürfnissen suche möchte. Sie hat bejaht und ich habe sie gebeten, zu beschreiben, was ihr alles durch den Kopf geht, wenn sie daran denkt, dass ihre Tochter sich nicht an die Abmachung hält. Es hat sich herausgestellt, dass die Mutter sich grosse Sorgen macht, ja, dass sie riesige Angst hat, weil ihr Verbindung (zur Umwelt) und Selbstverantwortung wichtig sind. Sie hat Angst, dass die Tochter in die virtuelle Welt abdriften könnte, wenn sie niemanden mehr hat, der (wie die Mutter) sicherstellt, dass das nicht passiert. Dabei haben sich die Gefühle der Mutter verändert: Die Wut ist Angst und dem Gefühl von Hilflosigkeit gewichen. 

Es könnte gut sein, dass ein Schutzmechanismus dafür gesorgt hat, dass die Mutter nicht direkt zum eigentlichen Bedürfnis gefunden hat. Einerseits, weil die momentane Nicht-Erfüllung in diesem Zusammenhang so schmerzhaft war und andererseits, weil das Setting (eine Weiterbildung mit Arbeitskolleg:innen) in der Regel nicht der Ort ist, wo wir uns besonders verletzlich zeigen wollen.

Strategien zur Bedürfnisfindung

Was kannst du tun, um deine Bedürfnisse in Bezug auf eine bestimmte Situation zu finden?

  1. Stelle sicher, dass sonnenklar ist, auf welche Situation und / oder Handlung einer Person du dich beziehst. Versuche eine ganz genaue und zugleich kurze Beobachtung zu schildern, frei von Interpretationen und moralischen Wertungen.

  2. Beobachte, welche Gefühle in dir aufsteigen, wenn du an diese Beobachtung denkst. Denn in erster Linie finden wir unsere Bedürfnisse über die Gefühle. Diese zeigen uns, wenn Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt sind (siehe dazu auch meinen Artikel über Gefühle). Wenn du zum Beispiel müde bist (Gefühl), ist dein Bedürfnis nach Erholung nicht erfüllt. Wenn du Angst hast (Gefühl), ist dein Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt. Wenn du irritiert bist, ist vermutlich dein Bedürfnis nach Klarheit oder Verstehen nicht erfüllt. Falls du Mühe hast, Gefühle zu finden, kannst du es mit der Liste der Gefühle versuchen, die du hier herunterladen kannst.
  3. Sprich die Gefühle laut aus und achte dich auch darauf, was du in deinem Körper wahrnimmst.

  4. Nimm die Liste mit den Bedürfnissen und lies sie durch. Notiere alle Bedürfnisse, die in Frage kommen und schaue, wie dein Körper reagiert.

  5. Erzähle jemandem die Situation und bitte diese Person, dir (z.B. anhand der Liste) Vorschläge zu machen, um welche Bedürfnisse es dir gehen könnte.

Sicher ist: Je öfter du nach deinen Bedürfnissen suchst, desto schneller und sicherer wirst du darin, sie zu finden.

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